25 Mai 2025

EINSAMKEIT DER STILLE

 
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EINSAMKEIT 
DER STILLE 


In einem kleinen Ort, verborgen zwischen baumbewachsenen Hügeln, lebte ein älteres Ehepaar: Anna und Oskar. 
    Sie waren seit fünfundvierzig Jahren verheiratet und wer sie als Nachbarn betrachtete, sah ein Musterbild der Vertrautheit. 
    Jeden Sonntag gingen sie gemeinsam spazieren, sie saßen nebeneinander auf der Bank im Park und am Abend war immer Licht in ihrem Küchenfenster zu sehen, dort wo zwei Tassen auf dem Tisch dampften. 

    Und doch sprach man im Dorf hinter vorgehaltener Hand: "Sie leben wie Schatten nebeneinander." 
    Früher war in dieser Beidersamkeit Lachen zu hören, ein unaufhörlicher Strom aus Worten, Berührungen, geteilten Gedanken. 
    Doch mit den Jahren hatte sich etwas in ihre Zweisamkeit geschlichen – nicht Streit, nicht Hass, sondern eine Stille, die schwerer wog als jedes Wort. 

    Anna fragte sich oft, wann Oskar ihr zuletzt in die Augen geschaut hatte. Und er dachte heimlich, dass ihre Nähe wie ein Mantel geworden war, der nicht mehr wärmte, nur noch drückte. 
    Sie aßen gemeinsam, doch jeder schmeckte allein. Sie schliefen nebeneinander, doch jeder träumte von einer Zeit, in der sie einander noch gefühlt hatten. 

    Eines Nachmittags, beim Spaziergang auf dem Hügel, sagte Anna plötzlich: "Weißt du, Oskar, ich glaube, wir sind einsam." 

    Er nickte nur. Dann, nach langem Schweigen, flüsterte er: "Am einsamsten ist man wohl, wenn man denkt, man sei zu zweit." 

    Sie blieben stehen. Zum ersten Mal seit Jahren sahen sie einander wirklich an. 
Beide fanden nicht den schon lange verlorenen Glanz der Jugend, aber etwas anderes: ein zartes Erkennen. 

    Zweisamkeit, das wurde ihnen klar, ist keine Garantie gegen das Alleinsein. Doch in dem Moment, in dem man die Einsamkeit des Anderen anerkennt, beginnt etwas Neues: eine echte Nähe. 

    Und während der Nebel über dem Dorf aufstieg, gingen sie langsam weiter in die Dämmerung. 
Nicht jünger, nicht glücklicher – aber vielleicht, für diesen Augenblick, weniger allein.



© Text by @HerrWortranken 

0243 |2025| ©HW