05 September 2023

UNENDLICHKEIT

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Drahtgitter. Davor quadratischer roter Würfel etwas verdreht, auf der Spitze stehend. Die dem Betrachter zugewandte Seite ist grün. Vom oberen Rand seilt sich eine Spinne ab.



 

 

        UNENDLICHKEIT


   Es geschah an einem der damals raren tropischen Tage im Sommer des Jahres 2013 in einer Nebenkapelle in Himmerroth.

 

   Viele der Gäste saßen auf den dürftigen Betstühlen. Die Sitzflächen bestanden aus vier geflochtenen Dreiecken, im klassisch spanischen Stil, aus handgedrehten Binsen.
Zirka 30 Minuten vorher begrüßte man untereinander mit herzigen Umarmungen. Unter Verwandten und guten Freunden zeugt dieses von vertrautem Begegnen.
  Eine Duftwolke lag schwer in der Luft dieser Versammlungsstätte. Überall zwischen den Anwesenden, oberhalb deren Köpfe, waberte ein Gemenge aus Parfümölen unterschiedlichster Zutaten. Es roch nach Zärtlichkeit der Jugend und nach ranzigem Schweiß, mit markanten Geruchsanteilen von verbrennendem Grillfleisch. Süßliche Assoziationen, die an die ersten Serien der im vorigen Jahrhundert produzierten Toilettensteine erinnerte, gab diesem Raum der Meditation, eine larmoyante Feierlichkeit.
  Die Örtlichkeit in der Eifel, eine kärgliche Kapelle, eher einer Rumpelkammer gleich, als ein Nebenbau der renommierten, aus aller Welt viel besuchten Klosterkirche. Verständlich, dass man in ergriffener Hingabe, den Blick zur Elevation erhebt, um mit dem Augenfokus in unendliche Entfernungen vorzudringen.
  Genau diesem Gefühl der Gruppendynamik folgend, schaute Eulalia gelangweilt zum Zenit.
  Unter Umständen war die Intensität der im Raum schwebenden Duftmoleküle, der suggestiven Wirkung einer konzertierten Andächtigkeit überlegen. Eulalia wusste es im ersten Moment nicht zu erklären, warum ein feierliches Ave Maria, von einer Hammondorgel angestimmt, zu dem Ohrschmerz führte. Diese begleitende, wunderliche, überlaute Sopranschrillstimme begründete, dass ihr Blick in die Himmelssphäre blockierte. Eulalia sah nicht die Unschärfe in der Unendlichkeit des Endlichen. Sie sah ausschließlich die Decke dieser Kapelle. Das Gewölbe zeigte in wunderbar amorphen, grauen bis schwarz figurativ ähnelnden Fresken, das kunstvoll strukturierte Können der dort ansässigen Spinnen. Die Deckenwölbung wurde zum Medium einer höheren Hemisphäre.
  Ein seltsames Empfinden durchströmte sie, wenn mit kraftvoller Inbrunst die vergeistigten Presswehen, der Sängerin, Eulalias noch intakte Gehörempfindungen zu schmerzhaften Nervenimpulsen anregten. Dann knirschte durch Verkrampfung der Kiefermuskulatur, hörbar ihr Zahnschmelz. Synchron mit dieser Schmerzempfindung veränderte ihr Sehen, auf das nach wie vor fixierte Kreuzgewölbe, ihre Andächtigkeit.
  Das, was sie sah, empfand sie ungeheuer aufregend. Für eine Weile stand ihr Mund offen, gleich einem staunenden Kind, das den Weihnachtsmann erstmalig sieht.
Die Gewölbefresken zeigten eine Metamorphose. Es entstanden schwarze Fäden aus den schwindenden Deckenschattierungen. Von der gesamten Deckenfläche hingen die Spinnweben vertikal herunter. Sie schwangen und assoziierten ein Sommerweizenfeld im heißen, schwülen Mittagswind.
  Kein Lüftchen vermittelte Kühlung. Bei der Darbietung des Ave Maria generierte eine gewaltige, nicht aus irdischer Energie stammende Kraft, diese Veränderung der Deckenmalereien. Eulalia sah das alles. Sie erlebte es. Sie verspürte deutlich dieses Gefühl, eine Auserwählte zu sein.
  Jäh klirrte es. Eindeutig identifizierte sie eine Weinflasche, die der Bruder Mönch, mit einer ungeschickten Fußbewegung hinter dem Altar, beim Blick gen Himmel, umstieß. Eulalias Gedanken begannen Purzelbäume, zu schlagen. Sie schien an manchen Wortassoziationen sichtlich Freude zu finden. ‚Auserlesen‘ kombinierte sie mit ‚süffige Auslesen‘. Dieses Gedankenspiel lies bei ihr, für einen Moment das Durstgefühl vergessen. Ihre Stimmung wechselte von der zuvor vergeistigten, laienhaften Andacht in die profane Realität der schwülen tropischen Mittagshitze.
Eulalia, alleinstehend am Beginn ihrer Menopause, besitzt Erfahrungen mit Wärme. Die heutigen Temperaturen übertrafen alle ihre Kenntnisse. Im Zustand der fliegenden Hitze rutschte sie regelmäßig in depressive Gedankenwelten. Heute verkörperte sie eine verschmitzte, hintersinnige Eulalia, aufgrund dessen, jeder sie mag. Sie bekäme jetzt durch einen solchen Hormon-Blues kein Verlangen, an einen Freitod des Erstickens, mittels Einatmen des nicht vorhandenen Sauerstoffanteils in der Kapellenluft. Sie hielt ihre Hand vor den grinsenden Mund.
  Eulalias Blick wanderte unbestimmt im Raum. Ihr Fokus, ohne Absicht, stoppte bei Gernot, der seitlich in ihrer Reihe stand. Kein Mann nutzte die Sitzgelegenheiten. Lag das an dem Versuch, in knapp zwei Meter Höhe, die Restbestände der Sauerstoffmoleküle zu ergattern? Lag es an der momentanen Konsekration, der Wandlung, von Wein in virtuelles Blut?
  Durch die konstanten Schweißabsonderungen verbeulten die Kleidungsstücke der Anwesenden. An Gernots Hosenvorderteil fiel Eulalia eine nicht zu übersehende Ausbuchtung auf, die er mit den übereinandergelegten, verschwitzten Handflächen, zu kaschierten suchte. Eine normale Situation für sie. An welche netten Schweinereien Gernot jetzt in diesem Moment denkt? Ein unterdrücktes Schmunzeln ließ ihre Lippen verschlanken. Sie wandte den Blick.
  Ihre schelmischen Äuglein stoppten bei sämtlichen männlichen Anwesenden an den Positionen, wo Gernots zusammengelegte Hände, ihre Aufmerksamkeit erregte.
Nochmals öffnete sie den Mund. Ihr Gesichtsausdruck erstaunte. Alle umstehenden Männer besaßen keine normalen Hosenbeulen an besagter Stelle. Es muss an diesem medialen Raum liegen. Eine andere Erklärung kam Eulalia nicht in den Sinn.
  Bei dieser wabbeligen, in der Art von zähem Weißbrot zu schneidenden Luft, nicht verwunderlich.
  In dieser Situation kamen Erinnerungen an ihre Kindertage. Einen Wasserfarbkasten bekam sie geschenkt. Bei den ersten Versuchen mit den Malutensilien mischte sie gleichzeitig alle Farben. Auf dem Papier, im Wasserglas, in jedem der Farbdöschen des Malkastens entstand die gleiche Tönung. Das Vermengte zeigte Ähnlichkeiten mit ihrer Kacka, so weiland ihr Sprachschatz. Nach mehreren Tagen roch diese vergessene Mischfarbe vergleichbar.
  Eulalias Fantasie lies sie jetzt diesen fauligen Geruch erschnüffeln und sie dachte an Stinkbomben. Diese mit gelblicher Flüssigkeit gefüllten Glasröhrchen, die um die Karnevalszeit, hauptsächlich von Bengels gekauft, und mit ausgeprägter Boshaftigkeit in Bodennähe der Mädchen geworfen wurden.
  Mittlerweile, nach fast fünfzig Minuten, andachtsvoller Verharrung in dieser Kapellenluft, glaubte Eulalia, das Geheimnis der Hosenbeulen zu erahnen. Im Internet las sie vor Monaten, dass es vorstellbar sei, Schwefelwasserstoff gegen Erektionsstörungen einzusetzen. Die Messe ging zu Ende. Eulalia wartete, bis alle Anwesenden hinausgingen, um ihre Neugierde zu befriedigen. Was für einen Messwein diese Mönche trinken?
  Sie drehte um die eigene Achse. Keine Menschenseele in der Kapelle. Vier Stufen höher, ein paar Schritte, sie stand hinter dem bescheidenen Altar.
  Eulalia sah nicht die vermutete, umgefallene Weinflasche. Sie registrierte ein auf der Seite liegendes Marmeladenglas mit einem handgeschriebenen Aufkleber.
  Sie rutschte aus. Erkannte im Fallen, auf dem Glas, schemenhaft zwei Buchstaben.
  Ein ‚i‘ und ein ‚a‘ schien es, sollte sie noch im Bruchteil des Ausrutschers, assoziieren.
Ein Flash.
  Eine Menge rautenförmiger, blauer Steinchen, die am Boden lagen, wurden von ihren Augen noch erkannt. Es war das Letzte, was sie registrierte, bevor sie hart mit dem Kopf aufschlug.


  Nie mehr öffneten ihre Lider, um in die Weite der Unendlichkeit zu schauen.
Eulalia ist jetzt ein Teil von ihr.
 

 

   © Text by HerrWortranken