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EINE KURZE RABENNOVELLE
Sie hatten es geahnt. Die Raben, die auf den kahlen Ästen des alten Kirschbaums saßen, schauten mit tiefem, dunklem Blick hinab. Ihre schwarzen Federn glitzerten im sanften Licht des frühen Herbstnachmittags, und ein leichter Wind strich über das knorrige Baumgeäst, ließ die wenigen verbliebenen Blätter rascheln und sich zitternd loslösen. Die Raben rührten sich nicht, ihre Augen lagen scharf auf die Straße gerichtet.
Unten auf dem Asphalt war es still, nur das gelegentliche Knirschen von trockenen, bunten Blättern durchbrach die Ruhe, wenn eine plötzliche Böe sie aufwirbelte und wie wilde Tänzer über den Boden fegte. Die Raben ließen ihre Flügel sanft sinken und blickten auf die Straße, als würden sie eine unsichtbare Gefahr erwarten, die nur ihnen bekannt war.
Dann – ein Flügelschlag, gefolgt von einem weiteren. Einer nach dem anderen stiegen die Raben in die Luft, ihre schwarzen Gestalten zeichneten sich scharf gegen den blassen Himmel ab. Ihre Schwingen rauschten mit der Kühle des Herbstes, mischten sich mit dem Rascheln der trockenen Blätter und ließen den Boden vorübergehend in eine fremde Stille sinken. Für einen kurzen Moment schienen die Raben und das welke Blätterwerk eins zu sein, eine leise, flüchtige Melodie in der stillen Herbstluft.
Plötzlich zog ein Schatten über die Straße, als ob die Raben mit ihrem Aufsteigen etwas Dunkles mit sich in die Lüfte zogen. Ein dumpfes Grollen ertönte in der Ferne – das Geräusch eines schweren Motors, das aus dem Nebel eines bevorstehenden Regenschauers herüberdrang. Ein Wagen, verloren im Dunst des Herbstes, bewegte sich langsam über die Straße und kam schließlich direkt unter dem alten Kirschbaum zum Stehen.
Die Raben, die es längst gewusst hatten, kreisten hoch oben, lautlos, und schienen das alte Gefährt wie Geisterwesen aus einer anderen Zeit zu betrachten.
© Text by HerrWortranken
441 |2024| ©HW