04 Dezember 2022

LEBEN IN DER SCHLEIFE

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 LEBEN IN DER SCHLEIFE
Eine Novelle von
© HerrWortranken 
 
 


Hintergrund, Ausschnitt einer undefinierten, unrealistischen Tageszeitung. Davor plaziert ein voluminöser Laubbaum, , dessen kugelförmige Krone in der unteren Hälfte aus einzelnen Buchseiten besteht.
 
 
 
 


VORVORGESTERN


Ja ich bin sicher, es war der Tag, an dem ich morgens mein gewohntes Weckerklingeln vermisste. An diesem Tag
verspürte ich es das erste Mal. Ein mir bis zu diesem
Zeitpunkt noch nie bewusst erlebtes Spannungsgefühl
durchströmte mein linkes Augenlid, just in dem Moment, als sich das Tor zu diesem neuen Tag in mir öffnete.
Ich werde wach und sehe in meine Umgebung hinein.
Wundernd über eine sehr zweifelhafte Umfeldwahrnehmung,
die mit einer wirklichkeitsfremden Distanzperspektive aufwartete, erklärte mein Unterbewusstsein sofort, dass ich mich in einem Traum befinde.
Nein.
Es ist Realität. Ich träume jetzt im Traum, dass ich träume, ich bin wach geworden.
Aha, denke ich für diesen Moment. Das gibt mir eine
beruhigende Gewissheit. Doch es ist innerlich kein
bedrohungsflüchtendes Gefühl. Alles ist so untraumhaft, als wäre ich wach.
Wieso sehe ich das Zimmer mit seinen Objekten, alle wie immer am gleichen Standort? Aber nicht abschätzbaren
Distanzen zwischen den sich meinen Augen, hinter und nebeneinander, auf Abstand platzierten Gegenständen.
Diese Wahrnehmung fühlt sich an, wie es für einen Einäugigen, als normales, tagtägliches Sehmuster erfahrbar ist.


LEBEN IN DER SCHLEIFE

Wir kennen den Satz: 'Ich sah mein Leben wie in einem Film vor meinem inneren Auge projiziert'. Solch ein subjektives Hirnkino startet, um traktierend, meine
Gedankenstrukturen in panikartige, nanosekündliche
Fraktalflashs zu zerlegen.
Angst. Horror. Bilder von phantastischen Ungeheuern, wie
aus bekannten Endzeitfilmen. Wechselweise mit bunten,
grausigen Illustrationen, wie aus alten Märchenbüchern,
übertrumpfen sich gegenseitig, Rampensäuen gleich, ihre
intensiven hirnrissigen Bühnenshoweffekte, in mein
Sehorgan, zu schleudern.
Was ist das? Was war das? Erschreckend, wie bewusst und
intensiv ich meine eigene Existenz, erfahre.
Ja es ist ein Traum. Diesen Gedankenfetzen denke und realisiere ich blitzschnell zwischen dem Bombardement, einer intensiv wechselnden Formenflut und den sich aus allen Gedankenritzen, raumnehmenden Farbtsunamis.
Jetzt, verschwunden. Leere. Nichts. Gar nichts mehr.
Aber ich lebe doch. Ich sehe nur Schwarz. Sehe ich?
Gedanken an plötzliche Blindheit oder tiefschwarze Nacht, nehmen ohne Zeitgefühl einer Schnelle oder Langsamkeit, Besitz von
meiner Gedankenwelt. Ich kann mich konzentrieren und
erinnernd an einen Gedanken, vor diesem Gedanken,
erinnern.
Zweifel kommen auf. Träume ich immer noch? Habe ich je
geträumt? Ist das der Übergang zum Tode? Meines Eigenen?
Sehe ich nur Bilderwelten von diesem Tunnel zum
Jenseitigen, der oft charakterisiert, von Nahtotprobanden.
Jetzt bin ich sicher, ich bin wach. Alles ist Realität.
Ich träume in diesem Moment ohne Sehreize ein schwarzes
Schwarz. Aber mit Traumgedanken im Traum. Genau, das
muss es sein.
Zum ersten Mal fühle ich mit einer physischen Schwere
meinen rechten Arm. Er bewegt sich. Nicht frei locker
sondern mattig und schlurfend, über einen Teil, meines linken
Oberkörpers.

In der Bewegung innehaltend, jetzt, als die Handaußenseite,
die Stelle der Kuhle von Daumen und Zeigefinger, von der
Kinnunterseite an dem weiteren Bewegungsfluss gehindert
wird, entsteht ein Gefühl der Ohnmacht. Ähnlich des
Trudeln, in einem aus Schatten bestehenden Sturm. Noch
immer nichts sehend, stecke ich inmitten dieses lichtlosen
Desasters.
Quälend in der Bewegung, wie grapschend nach einem
letzten Rettungsanker suchend, spüre ich, wie meine rechte
Handinnenseite, Richtung linke Stirn, auf meiner
Gesichtshälfte weiter wandert.
Immer noch in dem grenzenlosen, tiefen unendlichen
Dunkel, bin ich gefangen und es umhüllt meine Sinne.
Schwankend zwischen wirklichem Traum und traumhafter
Wirklichkeit. Noch nicht begreifend, die zustandslose
physikalische Gegenwart des Geistes und die vergeistigte
Körperlichkeit der Gedanken.
Urplötzlich, mit den Nervensensoren der Fingerkuppen
tastend, erfühle ich ein Etwas auf meinem Gesicht, dort wo
mein linkes Auge seinen Funktionsbereich haben müsste. 


An diesem Auge. Jetzt. Ein eigenartiges, nie vorher verspürtes
Spannungsgefühl, versetzt mir ein Déjà-vu [descha'wü]
Ist es Fantasie oder tatsächlich ein Gefühl von schon
Erlebtem. Verdammt noch mal. Ich denke den Satz,
“Verdammt noch mal“. Wieder kann ich Gedanken in meinen
Gedanken denken. In meinen Gedanken? Also bin ich wach.
Nicht träumend. Wieso aber spüre ich im Wachzustand nichts
von der Schwere meines, wo und wie auch immer, liegenden
oder stehenden Körpers. Warum und wieso diese Schwärze.
Die Finger tasten an meinem linken Auge. Was ist das für
ein Ding? Wie eine technische Apparatur? Fühlend realisiert
mein Hintergrundgedächtnis, das es vergleichbar in Form und
Größe eines halben Hühnereis, ist. Mit kleinen und kleinsten
Unebenheiten auf der Oberfläche.

Mehr aus einer technischen Gewohnheit, alle Tasten
ähnelnde Gebilde zu nutzen, drücke ich mit dem Finger auf
eine Stelle, die meinen Merkel-Zellen wohl den sensorischen
Standardbefehl, zum Aktivieren gibt. Ich drücke. Ich
schaltete einen Schalter.
Langsam, ganz langsam weicht die Schwärze der
Umgebung. Ein kleiner, unscharf gerandeter, zart grau
amorpher Fleck, wechselt zu einem immer heller und klarer,
fleischfarben, höhlenartigen Gang.
Ich ertappe mich bei einem Schmunzeln. Ja richtig, ich
schmunzele in mich hinein, bei der grotesken Vorstellung,
dass diese Höhle, in die ich jetzt blicke, eine Ähnlichkeit mit
der Bildaufnahme einer Koloskopie, zeigt. Mein Schmunzeln
steigert sich stetig. Mit geschlossenen Lippen, den
pulsierenden Atem prustend und ausschließlich durch die
Nasenöffnungen entweichen zu lassen, zeigt sich meine
Umgebung, mehr und mehr vergleichbar, die eines Kolons, in
dem ich mich befinde.
Und wieder frisst sich ein Gedanke, mit den schon vordem
gestellten Fragen, zweifelnd und ohne eine Einhundert
prozentige Sicherheit auf eine Antwort, wie ein archaischer
Oktopus, in mein, von Unsicherheit und Wissbegierde,
überschäumenden, schläfrigen Gedankenapparat.
Bin ich wirklich wach? Ist das die Realität? Die objektive
reale Realität? Alle gedachten Fragen und Antworten haben
nur ein Ergebnis. Ich weiß es nicht.
Das visuelle Horrorspektakel verblasst langsam. Wenn ich
etwas nicht weiß, so sinniere ich, so muss doch gleichzeitig
etwas Wissendes in mir sein. Ich muss wissen das ich lebe.
Ich lebe, bilde ich mir ein. Folglich ist alles was geschieht, in
diesen und den vorangegangenen Szenarien, objektive
Realität.
Diese verwirrende Reise in philosophische Strukturen,
verliert sich rasch in fokuslose, wabernde Nebel. Da ist
wieder die Realität. Genau wie in einem gut geschnittenen
Film, erfühle ich die übergangslose Fortsetzung der
Höhlenwanderung, meiner Augen.

Bisher hatte ich nur meinen rechten Arm mit Hand und
Finger, als physisches Anhängsel meiner Selbst verspürt.
Doch wo ist das Existenzielle, das willentlich Steuerbare,
meines kompletten Körpers? Ich muss mir beweisen das ich
lebe. Ich muss mich bewegen. Ich muss mich in der
Bewegung selbst erfahren.
Immer noch die Textur einer Kolon ähnlichen
Innenwandung vor Augen, verspüre ich, trotz extensiver
Anstrengung meines willentlich forcierten Geistes, keinerlei
physische Daseinsform meines Körpers. Man kann es nicht
simpel mit Worten, als das ich nichts fühle, formulieren. Ich
fühle absolut nichts. Gar nichts. Null. 

Es ist die Leere des Nichts. 

Finger, Hand und Arm, rechtsseitig, scheinen die einzig
interaktiven Teile meines Körpers zu sein. Willentlich beginnt
die Hand eine krampfende Bewegung. Stark greifend,
weiterhin dieses fühlbar Vorhandene, am Auge ertastete etwas
umklammernd, verfolge ich, wie sich der gesamte Arm einer
Elevation bemächtigt.
Während der Armerhebung, verändert sich meine visuelle
Umgebung. Diese Höhle vor mir verlängert sich.
Rückwärtsgehend, verlasse ich diese Umgebung.
Bisher hatte ich keinerlei akustische Wahrnehmungen
empfunden. Totale Stille. So verliere ich mich in den
wechselnden, bildbildenden, surrealistischen
Umgebungsstrukturen, meines rückwärts gewendeten
Ganges. In diesem eigenwilligen Szenarium entfleucht das
Interesse, nach Hörwelten zu suchen. Das Visuelle ist sich
seiner Dominanz bewusst.
Meine raumwechselnde Reise in diesem unterirdischen
Höhlensystem vermittelt Distanz vergrößernd, eine
trügerische Ruhe. Ein großer, mit allerlei, nicht definierbaren,
bruchartigen und auch gleichzeitig kantenlosen, mit
graubrauner Soße angefüllter Höhlendom, verwandelt mein
Gemüt, in einen beunruhigenden Zustand.

In diesem Moment, verspüre ich wieder bewusst, die
Bewegungsmechanismen der funktionalen Armextremität.
Meine Hand entfernt sich weiter vom Gesicht.
Eine winzige Idee, bemächtigt sich meiner Gedanken. Ist
das die Lösung?
Die Lösung meines Zwiespaltes? Ist das die
Antwort, dass nur das Denken des Gedachten sich als Traum.
. . . Oh mannoman . . . 

Ich werde überrannt von neuen
Bildfolgen der inneren Kamera. Jetzt purzeln und
überschlagen sich die Wahrnehmungen in beängstigenden,
alptraumgleichen Weltansichten. Die Summe der gesamten
Weltphantasie, aller Phantasten, könnte kein Bildmaterial
liefern, wie es sich mir in diesem Moment, als Ouvertüre
präsentiert. Ich sehe, ich empfinde, ich denke alles zugleich,
in rasendem Tempo. Die Welt geht unter. Es ist schlimmer.
Der reale Weltexodus, so uns Fachleute für die ferne Zukunft
prognostizieren, wird vergleichbar, dem eines romantischen
Sonnenuntergangs.
Schneller und schneller, mich weiterhin rückwärts
bewegend, entfernt sich im mittigen Sehfeld verengend, der
Höhlengang. Jetzt der Wahnsinn. Die Hölle des
grauenvollsten Grauens lebt. Existiert tatsächlich.
Kein Gedanke mehr an Zweifel. Alles ist Realität. Alle
früheren Überlegungen ans Träumen werfe ich über den
Haufen.
Ich sehe die ungeschönte Wahrheit.
Eine kleine Videokamera, die ich in der Hand haltend, aus
meinem Körper, aus der linken Augenöffnung ziehe,
vermittelte mir dieses höhlenartige Erlebnis im Inneren
meines Körpers.
Mehr krampfhaftes Fuchteln, als eine professionelle
dokumentarische Kameraführung, zeigt mir mit zittrigen
Bildern das Ausmaß der Katastrophe. Ich sehe jetzt den
Grund meiner Unvollkommenheit, die Welt nur
Eindimensional zu erfahren. Ich sehe ausschließlich ohne
Augen, nur mit diesem elektronischen Hilfsmittel.

Dort wo die Platzierung des rechten Auges zu vermuten ist,
befindet sich ein ekelig unappetitliches, verfranstes, dunkles,
bodenloses Loch. Wie eine abscheulich erblühende
Missgeburt des Bösen, gebiert sich windend, ein krummer
rostiger Nagel, meinen Kopf auf einer nicht definierbaren
Unterlage zu festigen.
Jetzt, im Wissen um alle Realität, entflüchted mir jegliches
Gefühl. Keine Angst mehr. Kein Verlangen nach
Hintergrundwissen. Keine Erinnerung mehr. Ich drifte weg,
einfach weg. 


Herr Wortranken. Hallo Herr Wortranken. Hallo. Aufwachen. Sie
haben alles gut überstanden. Meine Assistentin wird ihnen
beim Aufstehen helfen. Machen sie langsam …
Zuerst sammele ich meine Gedanken, um mir mittels
mehrerer intensiv befreiender Tiefatmungen, meine Lungen
mit Sauerstoff zu füllen. Mit der restlichen Kraft meines
Atemorgans puste ich den gerade durchlebten Alptraum, aus
Hirn und Gliedern, endgültig fort und höre mit wohliger
Labsal das Strömungsgeräusch von meinem Odem. Ich lasse
mich gehen. - Ich lasse mich fallen.

Wie umschlungen von den Armen der Liebsten, genieße ich
jetzt das intensiv lechzende Empfinden, in einer
Streichelorgie einer beschützenden, orgiastischen
Umklammerung aufgenommen zu werden. Einem
Wachtraum gleich, erlebe ich zarte Geräusche und Bilder,
eines wunderschönen Bachlaufs, wie auf einer von
Frühlingsfarben durchfluteten Waldlichtung.
Ich blinzele mit meinen Augen, genau, wie ein Maler seine
Vorlage anschaut, um differenzierte Kontraste zu erkennen.
Aus einem Dunstschleier, schärfer werdend, sehe ich eine
wunderschöne Tropfenorgie um mich herum. Langsam
beginnen meine Hörmuscheln unterscheidbare Klangfolgen,
zu registrieren. Ungezwungen lauschend genieße ich meine
Umgebung. Mächtig gurgeln die Größeren. Quirliges, an
Glasharfen erinnernde, wie Engelshaar auf die Erde fallende
Intervalle, entspringen den Kehlen der kleineren
Spritzfontänen.
Hier zwängen sich mehrere tollpatschige Wassergebilde,
schlurfend und auch glockenhell spritzend, zwischen zwei
Felsstückchen hindurch, während gleichzeitig Andere eine
Steinbarriere überwinden. Dumpf brummend und
siegessicher im Anlauf vor dem Hindernis, händehaltend das
Wagnis zu bestehen, vereinzeln sie sich im Zenit des
Sprunges und der zuvor basslastige Grundton wechselt über
in eine spritzige plitsch-platsch Melodie. Über all diesen
individuellen Äußerungen der Einzelnen liegt machtvoll, aber
nicht aufdringlich, eine beruhigende samtartige Weise.

Ein wortloser Gedanke seufzt in meinem Innersten und ich
empfinde mit einer Spur von zarter Traurigkeit, eine kleine
Sehnsucht nach Wärme.
Trotz meiner sprunghaften Stimmungswechsel, stellt sich
ein verwöhnendes Erleben, wie Urlaub in einem verklärten
Südseeparadies ein, als just in diesem Moment, ein schon
mehrfach, bewusst erlebtes Spannungsgefühl, an meinem
linken Augenlid, mir die Grausamkeit des Daseins, in mein
Hirn presst.
Ich werde wach. Ich sehe in meine Umgebung hinein.
Einem Filmabspann gleich, sehe ich, erst etwas unscharf,
aber dennoch mit einiger Konzentration lesbar und immer
klarer werdend, eine Buchstabenansammlung.
Satzbildende Wortzeilen huschen, von einem nicht wirklich
erkennbaren Begrenzungsrand, züngelnd über einen Monitor.
Jetzt visualisiere ich klar und unmissverständlich vor Augen
den fein strukturierten Screenshot

 

 

 

Je länger ich mich nun auf diese Information konzentriere, je klarer verspüre ich ein rhythmisches, zartes Zucken, meines linken Augenlides.

Ich werde wach. Ich sehe in meine Umgebung hinein. Ein mir bis zu diesem Zeitpunkt noch nie bewusst erlebtes Spannungsgefühl durchströmt mein linkes Augenlid.
Ich werde wach.

Werde ich wach  . . .

 
 

 
 © Text & Bild by HerrWortranken